Pressemitteilung -
„Wir kriegen das hin, weil wir zusammenhalten“
Frühjahr ist Hauptsaison: Auf dem Bio-Hofgut Richerode gilt es, Kartoffeln vorkeimen zu lassen, Sommerweizen, Ackerbohnen, Körnererbsen, Hafer und Gerste auszusäen. Hinzu kommen 100 Rinder, 180 Schweine und 460 Hühner. In Zeiten von Corona gibt es aber ein Problem: Die 51 Menschen mit Behinderungen, die auf dem Hofgut beschäftigt sind, dürfen momentan nicht arbeiten.
„Ich hatte schon großen Respekt vor der Summe der Arbeiten, die anstehen“, sagt Frank Radu, Betriebsleiter Landwirtschaft. „In dieser Jahreszeit ist immer viel zu tun. Wir merken gerade jetzt sehr deutlich, welchen erheblichen Beitrag die Klienten zum Tagwerk leisten, sei es in der Hauswirtschaft, beim Schälen von Möhren und Zwiebeln für unsere Großkunden, in der Stallarbeit oder der Außenwirtschaft.“ Die Arbeitsbereiche des Hofgutes zählen als Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM). Alle WfbM in Hessen sind seit dem 23. März geschlossen. „Das bahnte sich schon an, wir konnten uns ein bisschen darauf einstellen“, sagt Radu. Er, die zwölf Kolleginnen und Kollegen aus Hauswirtschaft, Verwaltung, Verarbeitung und Landwirtschaft sowie die Klienten zogen schnell die Kartoffelvorkeimung vor. „Das ist eine sehr aufwändige Arbeit, die gut läuft, wenn viele Hände da sind.“ Gut 30 Tonnen Saatgut mussten in Vorkeimkisten gepflanzt werden. Dann kam die Schließung und der Alltag musste neu strukturiert, Dienstpläne umgeschrieben und die Arbeit ohne Klienten organisiert werden. „Wir kriegen das hin, weil wir zusammenhalten und Unterstützung bekommen“, so Radu. „Aber uns fehlen die Klienten trotzdem, auch im Kontakt miteinander. Und umgekehrt auch“, weiß Radu.
Das Hofgut ist nicht nur WfbM sondern auch Heimat. Auf dem Hofgut leben 22 Menschen mit Behinderungen, 20 von ihnen arbeiten in der Haus- oder Landwirtschaft. Ein Klient zieht sich nach wie vor jeden Morgen seine Arbeitskleidung an und will in den Stall, so Radu. Oder Betreuer rufen an, weil den Klienten, die nicht auf dem Hofgut wohnen, zu Hause die Decke auf den Kopf fällt und sie wieder arbeiten möchten. „Manchmal sind es groteske Situationen. Dort, wo sonst Klienten sitzen, sitzen jetzt meine Kolleginnen, Kollegen und ich und schälen Möhren, Zwiebeln und Kartoffeln. Die Klienten, die hier wohnen, stehen draußen an den Fensterscheiben und gucken uns zu.“
Sie dürfen zwar nicht mehr arbeiten, übernehmen dafür aber andere Aufgaben, die wiederum den Mitarbeitern den Rücken frei halten. Den Hof kehren, den Rasen mähen, die Blumenbeete bepflanzen und den Keller aufräumen. Dazu wurde die Tagesstruktur des Wohnbereichs mit Unterstützung eines Kollegen aus der Für Uns-Manufaktur Treysa umorganisiert. Er hilft auf dem Hofgut bereichsübergreifend aus, wie auch zwei Mitarbeiter aus dem Marta-Mertz-Haus bei der anstehenden Kartoffelpflanzung und eine Kollegin aus der Öffentlichkeitsarbeit.
„Für mich war es klar, dass ich helfen möchte“, sagt Franziska Michel. Sie arbeitet eigentlich als Mediengestalterin in der Öffentlichkeitsarbeit, seit dem 30. März aber vormittags in Richerode. Ihre Eltern haben eine eigene Landwirtschaft, sie selbst 17 Hühner. „Vieles ist hier ähnlich. Das Füttern und Einstreuen, das kenne ich von zu Hause. Was neu war, sind die vielen Hühner. Es ist schon eine ganz andere Nummer, ob ich bei 17 Hühnern die Eier rausholen muss oder bei 460“, sagt sie lachend. Ihr gefällt die neue Arbeit. „Alles rund um die Tiere macht mir am meisten Spaß. Auch, bei dem guten Wetter draußen arbeiten zu können.“ Wie lange sie noch bleibt? „Mal gucken, wie es weitergeht.“
Von Tag zu Tag, so geht derzeit die Planung auf dem Hofgut. „Wir sitzen jeden Morgen zusammen. Jeder Mitarbeiter an einem anderen Tisch. Wir machen einen Tagesplan, klären, was gemacht werden muss und was jeder tun kann. Alle haben die Bereitschaft, sich von Tag zu Tag auf eine veränderte Situation einzulassen“, sagt Thomas Merle, Leiter Wohnen. „Zum einen erleben wir gerade einen großen Zusammenhalt, das Leben auf dem Hofgut, das Arbeiten und Wohnen, verdichtet sich. Zum anderen ergeben sich auch Konflikte aus der neuen Situation“, so Merle.
Zwar können die 22 Klienten, die in Richerode leben, rausgehen und sich auf dem Gelände bewegen, aber sie dürfen nicht mehr mit zu den Einkaufsfahrten in den Ort. Und sie dürfen auch nicht mehr ihre Familien besuchen. „Drei Klienten fahren sonst sehr regelmäßig nach Hause. Das ist für sie schwer auszuhalten“, weiß Merle. „Viele Klienten haben das Bedürfnis, unsere Hand zu halten, anderen Menschen aber auch den Tieren nahe zu sein. Nicht alle verstehen, was eine Abstandsregelung ist. Das ist eine Herausforderung, die wir gerade jeden Tag aufs Neue meistern.“
Hintergrund: Berufliche Bildung für Menschen mit Behinderungen
In der Regel zwei Jahre lang absolvieren Menschen mit Behinderungen auf dem Hofgut Richerode den Berufsbildungsbereich des als Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) geführten Bio-Betriebes. In dieser Zeit lernen die Klientinnen und Klienten alle Arbeitsbereiche auf dem Hof kennen: Von den hauswirtschaftlichen Aufgaben über die Tierhaltung und den Ackerbau bis hin zur Landtechnik und dem Schälbetrieb für Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln. An einem Tag pro Woche haben die Klientinnen und Klienten in dieser Zeit Berufsschulunterricht an den Hephata-Förderschulen in Treysa, wo in einer Spezialklasse schulische Ausbildung in „grünen Berufen“ angeboten wird. Zudem gibt es auf dem Hofgut eine Mitarbeiterin, die als Bildungsbeauftragte jeden Freitag mit den Klientinnen und Klienten aus dem Berufsbildungsbereich eine Wochenreflexion vornimmt und die Berichtshefte pflegt. „Wir knüpfen damit an die regulären Ausbildungen in Landwirtschaft und Hauswirtschaft an“, erklärt Betriebsleiter Frank Radu. Die Ausbildung orientiere sich dabei allerdings ganz individuell an den Kompetenzen der jeweiligen Person. Während der Ausbildung werden zudem auch Praktika in Betrieben im regionalen Umfeld angeboten, außerdem Bildungsfahrten zu Fachmessen oder zu Veranstaltungen des Bioland-Verbands. Die Bandbreite der individuellen Kompetenzen der Beschäftigten ist groß. „Wir haben Beschäftigte, die es mit viel individueller Förderung geschafft haben, den Schlepperführerschein zu machen“, erklärt Radu. Gleichzeitig gibt es auf dem Hof auch Beschäftigte mit hohen Unterstützungsbedarfen. „Jeder und jede bringt individuelle Kompetenzen mit ein. Das Tolle an der Arbeit in Richerode ist, dass die Menschen hier Tag für Tag erleben, wie Dinge gemeinsam im Miteinander gelingen, die eine einzelne Person alleine nicht schaffen würde“, sagt Radu. |
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